Eine provozierende Überschrift. Eine nie in diesem Ausmaß seit dem 2. Weltkrieg bekannte Pandemie als Chance zu bezeichnen, kommt auch mir auf den ersten Blick fast zynisch vor. Es gibt vor allem auch bagatellisierende Verschwörungstheorien, ideologische Besserwissereien und viele andere Ergüsse, auf die wir verzichten können. Aber sie sind natürlich auch Ausdruck der Angst und der die Sorge verdrängenden Wünsche, eine Erklärung zu finden. Das ist eine Beobachtung, die wir vor allem von Krankheiten kennen. Die Symptome erscheinen nicht mehr so schlimm, wenn man eine Erklärung hat.

Nachdenkliche Menschen können sich aber mit Kausalitäten nicht so recht begnügen, um wieder in ein seelisches Gleichgewicht zu kommen. Es wird erkennbar, dass unser Wohlstand, die ungeheure Lebensqualität in unseren Breiten, die individuelle körperliche und seelische Gesundheit noch nie auf festem Grund stand. Und manche Unzulänglichkeit im präventiven Katastrophenschutz wird jetzt auch kollektiv offenbar. Der schweizer Herzchirurg Prof. Dr. Vogt hat das aus seiner Perspektive in einem Zeitungsbeitrag https://www.mittellaendische.ch/2020/04/07/covid-19-eine-zwischenbilanz-oder-eine-analyse-der-moral-der-medizinischen-fakten-sowie-der-aktuellen-und-zuk%C3%BCnftigen-politischen-entscheidungen/  eindrücklich beschrieben, wie wir wichtige Zeichen für solche Ereignisse übersehen. Das gilt nicht nur für Infektionen, sondern betrifft beispielsweise auch die Sensibilität der digitalen Welt und die Vulnerabilität der Klimaentwicklung.

Viele Beobachter betonen die nachhaltige Auswirkung der mit dem Coronavirus einhergehenden Umstände. Ich bin da nicht so sicher, ob sich die Veränderungen nicht nur auf finanzielle, digitale und möglicherweise auch in einigen Ländern wie Ungarn auf politische Lebensbereiche beziehen.
Ich fürchte eher, dass die „Normalisierung“ sich in den Bereichen einstellen wird, die sich ändern sollten, weil wir die Problematik erkannt haben: Regionalisierung trotz Globalisierung, Solidarität zwischen den Menschen in der Nachbarschaft, europäischer Zusammenhalt, globale Lösungen für die Eindämmung von kriegerischen Auseinandersetzungen und damit verbundene tödliche Fluchtwellen, energisches Einschreiten gegen Verfolgung, wirtschaftliche Adaption in der einen Welt, Intensivierung der Bemühungen um die Welttemperatur.

Es besteht jetzt eine Chance zu einem Weg aus den repressiven Reaktionen gegen das Unerwünschte hin zu einer Kultur des Aufbaus von vergleichbareren Lebenschancen für möglichst viele. Die Menschenrechte könnten zu einem Maßstab des Handelns werden. So ideal wird es nicht kommen – so viel wissen wir aus der Menschheitsgeschichte über die Natur des Menschen. Der französische Philosoph Stéphane Hessel ist ein Beispiel für die lohnenswerte Arbeit an sich und seiner Welt und mahnt vor fast zehn Jahren unerschrocken, dass keine Macht und kein Gott dem Individuum die Verantwortung abnehmen, sich zu engagieren. Es tut der Seele wohl, etwas zu tun und es führt den einen in die Depression, den anderen in die Destruktion, nichts zu tun.

Die Chance der Besinnung ist die Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit und den zeitlosen Themen: wie kann es mir gutgehen, wenn es dem anderen nicht gut geht? Was bedeuten Kants kategorischer Imperativ oder das Gebot der Nächstenliebe für meine Lebensstilgestaltung und meine Beziehungen? Welche gesellschaftliche Gruppe vertritt mein Weltbild und welche ist menschenfeindlich? Dazu brauchen wir keine Pandemie – oder vielleicht doch!

A.D.