In den letzten Monaten hat mich die Frage in Beschlag genommen, wann ich wieder in das Nachbarland reisen darf, in dem ich einen Teil meines Lebens verbringe. Seit Oktober hat mich das Virus in Berlin festgehalten. Eigentlich wollte ich spätestens im März ein oder zwei Wochen fahren, aber die Lage war ungünstig mit den Inzidenzen, R-Werten, Quarantänen und den Ein- und Ausreiseregelungen. Gegooglet habe ich jeden Tag, obwohl es wöchentlich gereicht hätte. Die Schwierigkeiten haben meine Sorgen gefangen gehalten. Als dann die Nachricht kam, Mitte Mai kann es losgehen, wurden schnurstracks Termine geregelt und Vorbereitungen getroffen.
Nichts und niemand konnte mich mehr aufhalten, dachte ich. Gut organisiert mit dem notwendigen Testtiming eines nur Erstgeimpften fuhren wir los und legten in einer Stadt nahe der Grenze eine Pause mit Hotelübernachtung ein. Der Nachmittag in der Fußgängerzone mit wieder einkaufenden und teils auch lachenden Menschen mit Maske im Gesicht stimmte mich optimistisch: Jetzt geht es aufwärts. Früh am nächsten Morgen hieß es, die liebevoll bestückte Frühstücksbox zu nehmen und noch schnell aus dem Auto die Thermotassen zu holen, damit es unterwegs ein schönes Autoindoorpicknick geben konnte. Nur optimistische Gedanken hatten Platz in meinem Hirn, als ich durch eine Gasse zum Parkplatz hinter dem Hotel eilte, dass mir der herumlungernde junge Mann mit seinem Hoodie und der Stoffkapuze kaum auffiel: Mit den Tassen in der Hand kam ich zurück und spürte den Impuls, noch mal schnell die Zentralverriegelung anzuklicken. Da sprach er mich an, ob ich ihm zwei 20-Cent-Stücke geben könne, für den Kaffeeautomaten, an dem er mit den Eltern einen Becher trinken wolle. In der frühen Stunde gab es weit und breit keinen Automaten und niemand war auf der Straße. Was sich junge Bettler alles ausdenken, ging es mir durch den Kopf. Ich zückte mein Portemonnaie mit allen Karten und frischem Geld und wollte einige Münzen nehmen: In dem Moment greift der groß gewachsene Mann kräftig nach meinem Geldbeutel und zieht an meinen Händen. Es gelang mir mit all meiner Energie, mein Eigentum festzuhalten und ich schrie reflexartig mit lauter Stimme um Hilfe. Da ließ er von mir ab und rannte weg. Mit meinem Schwung kippte ich nach hinten, das Portemonnaie flog im hohen Bogen auf das Pflaster und ich lag halb auf dem Gehweg, halb im Gang, sodass meine Liebste mich aus dem Hotel in einer unerwarteten Horizontale sah.
Ganz unkompliziert war dann die Grenzüberschreitung und ich schreibe diese Zeilen mit einer leichten Prellung des Handgelenks, im Besitz meines Geldbeutels und deutlich reicher an Erfahrung. Warum erzähle ich dieses fragwürdige Abenteuer? Es hat mich einiges gelehrt über Erfahrung, Wichtigkeiten, Unabsehbarkeiten, das Opfersein und die Dankbarkeit im täglichen Leben. Alles aus der Sicht von hinten, denn am Ende hat man die Chance, klüger zu sein als zuvor. Da verbrauche ich so viel Zeit mit dem Unwägbaren und lebe in der Illusion, dass alles gut wird, wenn… Gleichzeitig habe ich mich darauf verlassen, dass schon nichts passieren wird, keine Krankheit, kein Unfall und schon überhaupt kein Überfall. Obwohl mir der junge Mann morgens um kurz nach 6 im Gang stehend hätte komisch vorkommen müssen, sein Spruch verdächtig war und ich eigentlich im Gespür hatte, es lauert eine Gefahr (warum prüfe ich gerade jetzt, ob der Wagen zu ist?), bleibe ich mit ihm im Durchgang stehen! Wie blöd kann man eigentlich sein, fragt man heute gern. Im Portemonnaie alle Papiere, alles Geld, alle Karten (gut vorbereitet?). Ich habe Menschen, die immer Angst haben oft geraten, den Versuch zu unternehmen die vorhersehbaren Situationen tatsächlich auch vorher im Kopf durchzugehen und sich zu fragen, wovor sie da Angst haben könnten. Das hat manchem sogar geholfen.
Unaufmerksam war ich und habe mich damit zum Opfer gemacht. Das ist heute unter jungen Menschen ein Schimpfwort. Und irgendwie dachte ich zuerst auch nur an meine Eselei und meine eigene „Schuld“ an dem Ganzen. Das war ein hilfloses Gefühl und ich habe eine Ahnung bekommen, was Menschen erleben, wenn sie ausgelieferte Opfer sind. Ich entwickelte während der Weiterfahrt dagegen allmählich ein gutes Gefühl: „Der Typ hat mich nicht abgezogen. Ich habe die Hoheit über meine Börse behalten. Welch ein, wenn auch zweifelhafter, Erfolg! Hätte er gewonnen, hätten wir uns Geld für die Heimfahrt borgen müssen… und, und, und. Mir ist klar geworden, wie wichtig im Anschluss an ein Trauma es nach einer Trauerphase ist, wieder Selbstbewusstsein zu entwickeln, damit das Opfersein nicht zur Lebenshaltung wird. Ich habe mich zuvor niemals als Opfer gefühlt, diesmal war ich nahe dran, mein „Sieg“ hat mich davor bewahrt. Schließlich aber überwiegt ein Gefühl, das vielleicht nicht jedem sofort in solchen Situationen als dazu gehörig einleuchtet – Dankbarkeit. Zwar kann ich mich oft ganz gut in Situationen einfühlen, die Menschen bekümmern, ich habe aber nicht alle selbst erlebt und bis vor kurzem auch noch keinen Raub. Dafür bin ich dankbar, ebenso wie für die Tatsache, dass es nicht schlimmer gekommen ist und dass ich diesen Text jetzt in der Sonne ganz nah am Meer verfassen darf. Gucken Sie doch mal, ob Sie sich an Situationen in den letzten Wochen und Monaten besinnen, auf die sie jetzt im Nachhinein mit Dankbarkeit zurückschauen können.
AnDi